Die Jungen aus der Feldstrasse, Teil 20


Erschöpft und tief in Gedanken bog Malandro in die Konditorgasse ein. Für gewöhnlich lief er nicht so gedankenlos durch die Stadt. Es war etwas, dass man in der Feldstraße schnell ablegte. Wer in der Neustadt und besonders an der Grenze zum Ingenfeld nicht seine Sinne beisammen hatte, verlor zu schnell sein hab und gut, und dass war, wenn er Glück hatte. Vor allem ließ sich ein Feldstraßler nicht bei Tageslicht überraschen, selbst wenn auch der hellste Sommersonne nur grau und schmutzig durch den Rauch der Stadt auf die Straßen Xpochs treffen konnte.
"Holla, Bengel", erklang plötzlich eine raue Männerstimme dicht neben Mals Ohr. Erschreckt zuckte er zusammen und tastete sofort nach dem Klappmesser, dass er sich auf Anraten Unterschnitts gekauft hatte. Es hatte ihn sehr geschmerzt, sein weniges Geld für eine Waffe auszugeben, die er nicht zu verwenden beabsichtigte. Aber so wie Apfelhelm sein Heim niemals ohne die Klinge in seinem Gehstock verlassen würde, wünschte er auch nicht, dass sein Schüler unbewaffnet auf der Straße angetroffen werden würde.
In diesem Fall erwies es sich als glücklicher Umstand, dass der Fremde Malandro nicht angriff, so wie es sich für den Mann als günstige Fügung herausstellte, dass Mal das Messer nicht aus der Tasche heraus gepult bekam.
"Wer sind sie?" stammelte er schließlich hervor, als er sicher sein konnte, dass sein Gegenüber ihn nicht angreifen würde.
"Nur'n Bote." Der Mann blickte schnell die Straße hinauf und hinunter, dann zog er sich in den Schatten eines Türaufgangs zurück und winkte Malandro, ihm zu folgen. Mal erhaschte einen Blick auf seine zerschlissene Kleidung und eine Nase voll von den ungewaschenen Ausdünstungen des Mannes.
"Du arbeedest für Unterschnitt, nich'?"
"Ich bin sein Lehrling", berichtigte Malandro den Mann.
"Was auch immer. Ich soll nur 'ne Naaricht overbring'n, dass ein staatschen Herr mit ihm snacken will. Nach'm Dunkeln."
"Ich glaub' nich', dass Herr Unterschnitt dann noch wen empfängt."
"Er secht sei 'ne delikat Saak von internatschonale Interesse. Nennt sich der 'Schlanke Mann'." Damit drückte er sich an Malandro vorbei und lief um die Ecke aus der Konditorgasse hinaus. Der junge Mann sah ihm verwundert hinterher. "Was sagt man denn dazu." Dann schüttelte er den Kopf, weil er schon klang wie Soldrang.

Glücklicherweise hatte Unterschnitt an diesem Abend keine Gesellschaft. Er saß zwar an der Lösung irgendeines Falls, von dem Malandro nichts wusste, nahm sich aber Zeit, als sein Lehrling an seine Zimmertür klopfte.
"Habt ihr Fortschritte gemacht?" fragte Unterschnitt, ohne von seinen Unterlagen aufzusehen.
"Wir haben die List und haben ein paar Leute schon besucht."
"Wenigstens etwas. Ich bin bald fertig, dann können wir ein wenig üben."
"Gern. Aber das wollte ich gar nicht."
Jetzt wandte sich Unterschnitt ihm doch zu und zog die Augenbraue hoch.
"Hast du was angestellt?"
"Wie kommst du denn darauf?"
"Du klangst, als würdest du dich für etwas schämen."
"Nein. Weswegen sollte ich mich schämen? Es ist nur, dass mich ein Kerl auf der Straße angesprochen hat. Klang wie ein Ingener."
"Interessant, ein Ingener in der Konditorgasse. Das letzte Mal, als das geschehen ist, hat jemand versucht, mich umzubringen. Aber dir scheint nichts geschehen zu sein. Was wollte der Herr?"
"Er wollte eine Nachricht überbringen." So wie Malandro in Gesprächen mit seinen Freunden, wenn er aufgeregt war oder auch mit Leuten aus den Außenbezirken immer wieder in seine alten Sprachmuster verfiel, sprach er mit seinen Lehrer betont langsam, da er für die sauberere Aussprache der Innenstadt immer noch gelegentlich seine eigenen Worte überprüfen musste.
"An mich gerichtet? Das bedeutet, er hat auf dich gewartet."
"Sieht so aus. Zumindest wusste er, dass ich bei dir wohne."
"Das wird ja immer kurioser. Ein Ingener, der meinen Lehrling kennt und eine Nachricht überbringen will, ohne selbst vorbeikommen zu wollen."
"Es war von einem, der sich der Schlanke Mann nennt. Der Ingener meinte, dass der Vornehm sei und dass die Angelegenheit wichtig wäre. Irgendwas Internationales."
"A! Das erklärt zumindest die Vorsicht." Er warf einen langen Blick aus dem Fenster, bevor er eine Frage formulierte: "Was glaubst du, mit wem wir es zu tun haben?"
"Woher soll ich das denn wissen?"
"Es gibt ausreichend Hinweise, um wenigstens eine Vermutung anstellen zu können. International, vornehm und zu einem Zeitpunkt, da wir an einem bestimmten Fall arbeiten. Denk mal drüber nach."
Das tat Malandro, war jedoch noch zu keinem Ergebnis gekommen, als zwei Stunden später eine Kutsche in der engen Gasse hielt und wenig später ein Mann die Konditorgasse 23a betrat.
Malandro war bereits im Flur und tapste hinter Soldrang und dem Fremden hinterher.
Unterschnitt begrüßte seinen Gast, indem er ihm entgegen kam und die Hand schüttelte. Er bot ihm einen Stuhl an und winkte Malandro zu sich, während er Soldrang für Getränke hinausschickte.
"Ich hoffe, es stört sie nicht, dass mein Gehilfe anwesend ist. Er ist mit allen meinen Fällen vertraut und überaus verschwiegen."
Der Fremde rückte sich nervös auf seinem Stuhl zurecht, als wollte er Einspruch erheben, nickte dann aber nur. Malandro musste zugeben, dass er tatsächlich alles erfüllte, um als vornehm angesehen zu werden. Sein Anzug saß wie angegossen, sein Hemd war selbst Abends noch so weiß, dass man nur vermuten konnte, er habe es extra für diesen Besuch noch einmal gewechselt. Ein Siegelring schmückte den Ringfinger seiner linken Hand und den Hut, den er am Eingang Soldrang übergeben hatte, entsprach der neusten Mode und war in entsprechend gutem Zustand. Natürlich waren seine Haare mit irgendeiner Pomade fest an den Kopf geklebt, nur sein Backenbart gab einen Hinweis darauf, dass er echtes Haar besitzen musste. Auch sein ganzes Gebaren wies darauf hin, dass er es gewöhnt war, sich in vornehmer Gesellschaft zu bewegen und wahrscheinlich auch Befehle zu geben. Nur die Nervosität verließ ihn nie ganz. Wenn jedoch die Angelegenheit tatsächlich so delikat war, wie der Bote behauptet hatte, dann war er vermutlich nur sehr ungerne hierhergekommen und musste jede Entdeckung fürchten.
"Herr Therond, wenn ich mich nicht irre."
"Ich sollte nicht überrascht sein, dass sie mich kennen. Trotzdem kann ich nicht umhin, mich zu wundern, wie sie mich erkannt haben. Soweit ich weiß, sind wir uns niemals begegnet."
"Tatsächlich war der letzte Empfang, den ich besucht habe und auf dem ich einem Botschafter der [Hügelstätte] hätte begegnen können, vor ihrer Zeit. Aber ich musste sie nicht kennen, um aus den Umständen auf ihre Person zu schließen."
"Das ist unglücklich. Wenn es so leicht für sie war, dann besteht die Gefahr, dass auch andere darauf kommen könnten, dass ich Kontakt zu ihnen aufgenommen habe."
"Die wenigsten wissen jedoch, dass ich in einen Fall involviert bin, der eine Verbindung zu den [Hügelstätten] aufweist. Die Worte ihres Boten ließen nur den Schluss zu, dass ich heute Abend einen vornehmen Mann empfangen würde, der sich auf der internationalen Bühne bewegt. Ein Diplomat aus diesem Königreich hätte jedoch niemanden aus den Slums als Boten beauftragt. Unsere Provinzen hätten sich vermutlich anders ausgedrückt und mit Gnemiar haben wir derzeit nichts zu schaffen. Das Großherzogtum wäre noch in Frage gekommen, aber dies verhält sich in letzter Zeit so ruhig, dass wir nur selten etwas aus dem Norden hören."
"Das ist ein netter Gedankengang, jedoch vermute ich, dass er nicht ausgereicht hat, um auf meinen Namen zu schließen. Es gibt andere Mitarbeiter der Botschaft, die sie ebenso gut hätten aufsuchen können."
"Sehr richtig. Allerdings habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, Akten zu allen wichtigen Ausländern in Xpoch anzulegen, und die Beschreibung, die ich von ihnen hatte, war überaus präzise."
Unterschnitt lächelte ein Selbstzufriedenes Lächeln, welches Malandro verriet, dass er sich nicht nur auf seine Akten verlassen hatte. Vermutlich hatte er nachmittags auch noch schnell ein kleines Ritual durchgeführt, um sich zu versichern.
Botschafter Therond lächelte nicht. Er senkte nur den Kopf und nickte ein verkürztes Nicken, bevor er wieder aufsah um seine nächste Frage zu stellen.
"Geh ich recht in der Annahme, dass sie auch wissen, warum ich zu ihnen gekommen bin?"
"Ich habe eine Vermutung. Wie ich schon sagte, war einer der Gründe, warum ich auf sie gekommen bin, dass ich in einem Mordfall ermittle, bei dessen Opfer eine Anzahl von Büchern aus den [Hügelstätten] gefunden wurde. Daher vermute ich, Dass ihr Besuch mit diesen Büchern in Zusammenhang steht. Ich kann mir aber keinen Reim darauf machen, was sie erwarten, dass ich für sie tun könnte?"
"Sie haben tatsächlich die richtigen Schlüsse gezogen. Bei den Büchern handelt es sich um die Tagebuchsammlung des Hauses Trenai, wie sie vermutlich bereits wissen. Ein Nachfahre der Autorin hatte die Bände in gutem Glauben an den Professor ausgeliehen, ohne sich Gedanken über die Konsequenzen zu machen, die sein Handeln mit sich bringen könnten. Sie müssen wissen, dass die [Hügelstätte] immer noch ein Verbund aus einzelnen Staaten sind und die einzelnen Herrschaften sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wer als Feind zu betrachten ist. In diesem Fall hat der Bewahrer dieser Werke eine gewisse Schwäche für die Wissenschaft. Und obwohl man ihn zu Recht als Patrioten betrachten muss, ist er etwas Blind, wenn es um die Nationalität von Scholaren geht."
"Und jetzt möchte er die Bücher zurückhaben."
"Nicht nur er, sondern auch der Rat der [Hügelstätte] ist sehr daran interessiert, dass diese Schätze wieder an ihren rechtmäßigen Platz zurückkehren. Sie sind ein Kulturgut, welches viel unserer Geschichte aus einer besonderen Sicht beschreibt. Allerdings will natürlich niemand in die Angelegenheit verwickelt werden und womöglich eine diplomatische Krise heraufbeschwören, indem wir offiziell um die Aushändigung der Bücher bitten."
"Da kann ich ihnen leider nicht helfen. Soweit ich weiß befinden sich die Bände derzeit in den Händen der Metrowacht. Von dort werden sie vermutlich direkt in die Regale der Universitätsbibliothek wandern. Man hört, dass die Bibliothekare dieser ehrwürdigen Hallen ganz begierig auf außergewöhnliche Bücher sind."
"Vielleicht wäre es ihnen möglich, einen Weg zu finden, sie wieder in die Hände der [Hügelstätte] zu übergeben."
"Sie meinen, wir sollen sie entwenden."
"Das wäre gegen das Gesetz, selbst in Xpoch. Zu einer solchen Tat würde ich sie nie anstiften wollen."
"Ich denke, ich werde ihnen in diesem Moment keine Antwort geben können. Eine Antwort in dieser Sache sollte nicht leichtfertig gegeben werden."
Der Botschafter nickte ein weiteres Mal. "Wann wäre es ihnen genehm, dass ich sie erneut aufsuche?"
"Ich werde ihnen eine Botschaft zukommen lassen. Das wird für alle Beteiligten besser sein."

Als Kol Therond endlich von Soldrang hinausgeleitet worden war, wechselten die beiden Zurückgebliebenen einen langen Blick, bis Unterschnitt schulterzuckend bemerkte: "Die Angelegenheit wird immer interessanter."

Die Jungen aus der Feldstrasse